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2006


Edelkastanienhonig

Jürgen Engel

Zwar wurde die Edelkastanie (Castanea sativa) 1 schon vor zweitausend Jahren durch die Römische Besatzungsmacht in jenes Territorium gebracht, welches heute den Namen Pfälzerwald trägt. Doch die Bäume der Buchengewächse (Fagacea), zu denen die Edelkastanie gehört, erobern sich neue Gebiete auch durch die sogenannte Versteckausbreitung: ihre Früchte, nämlich die Maronen werden von den Nagetieren zur winterlichen Vorratshaltung gesammelt - und oftmals wird der Ort der Sammlung von den Tieren vergessen, so dass die unauffindbaren Früchte im Frühjahr zu keimen beginnen.

Bis zur allerersten Blüte eines Baumes vergehen bestaunenswerte 20 bis 30 Jahre. Nicht nur deswegen steht die Edelkastanie irgendwie ausserhalb üblicher Zeiten: sie kann bis zu eintausend Jahre alt werden und sie blüht ungewöhnlich spät, nämlich in den Monaten Juni und Juli. Die ährenähnlichen, grünweissen Blüten markieren sommerliche Mischwälder in einer besonderen Weise. Das auffällige Erscheinungsbild eines Waldes mag vielleicht ein Grund für Kaiser Karl (742 - 814) gewesen sein, die Edelkastanie in die Landgüterverordnung (Capitulare de villis) 2 aufnehmen zu lassen. Für eine zusätzliche Verbreitung der Edelkastanie als Bienenweide sorgte ebenfalls der Kronberger Theologe Johann Ludwig Christ (1739 - 1813) durch seine Tätigkeiten als Pomologe und als Bienenzüchter. 3

Die mediterrane Anmutung 4 des Pfälzerwaldes hat für die dort ansässigen Imker einen eher pragmatischen Nutzen, weil die Bienen noch mitten im Sommer ihre Flüge starten können, um Nektar, Pollen und Honigtau 5 zu sammeln. So bringt Hermann Stever 6, Mathematiker an der Universität Landau und seit mehr als 20 Jahren als Imker tätig 7, Mitte Juni seine Bienenvölker an zwei ausgewählte Standorte 8:

Der Stellplatz A 9 befindet sich nordwestlich von Albersweiler zwischen Rothekopf (379 m ü. NN) und Rehköpfchen (397 m ü. NN), und der Stellplatz B 10 liegt westlich von Bad Bergzabern an einem Bach unterhalb vom Zimmerberg (304 m ü. NN). 11

An beiden Lagen produzieren die Bienen der Imkerei Stever 12 einen Edelkastanienhonig von überragender und zugleich ausgezeichneter Qualität. So erhielt der Jahrgang 2005 13 in der Landesprämierung die Goldene Kammerpreismünze der Landwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz.

Viele Sorten von Honig wurden mittlerweile im Rahmen des Projektes Kunst und Honig verkostet. Anfänglich neigte die Präferenz zum hocharomatischen Tannenhonig. Aber das Wissen um die extrem hohen Anteile von Honigtau und das eigentlich an Hustensaft erinnernde Aroma brachte einen allmählichen Wechsel der Geschmacksrichtung. Das Urteil über den Edelkastanienhonig, der vom Imker Hermann Stever gewonnen wird, hat sich gerade wegen der vielen Vergleichsproben gefestigt. Eine aktuelle Verkostung - beim Verfassen des Textes durchgeführt - kommt zu diesem Ergebnis:

Der Edelkastanienhonig hat eine leuchtend gold-braune Farbe. Die kristalline Konsistenz ist schmelzend fest, in der Mitte des Glases ein wenig flüssig. Der Duft ist leicht aromatisch und holzig. Eine Geschmacksprobe zerfliesst im Mund - mit kleinkörnigen Berührungen an der Zunge. Hiervon ausgehend entwickelt sich im Mundraum eine Süsse und Säuernis von angenehm herber Art. Die klare Geschmacksnote süss-herb-bitter kann etliche Minuten lang anhalten. Die Note klingt ganz langsam ab, wobei ein Nachklang 14 im Rachenbereich noch länger schwingt.

Nur diesen Honig könne sie akzeptieren, sagte mir Chrysoula Pasachidou in einem Gespräch anlässlich einer Kostprobe. In ihrer griechischen Heimatstadt Katerini 15 habe sie in Kindheitstagen beim Freund ihres Vaters einen Edelkastanienhonig kennen gelernt, den sie in Deutschland in der vergleichbaren Qualität vergebens suchte. Erst die heutige Sorte vom Imker Stever aus dem Pfälzerwald liesse sich mit dem damaligen Honig, der aus dem Bergdorf Kato Milea stammte, vergleichen.

Geschmack, der bekanntlich vor allem vom Riechen getragen wird, ist ein hochkomplexer und erinnerungsträchtiger Vorgang, den zum Beispiel Marcel Proust (1871 - 1922) in seinem Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« in einer berühmten Episode 16 beschrieben hat: Der Genuss von Tee und einem kleinen Stück Madeleine löst bei Proust ein unerhörtes Glückgefühl aus. Und dann heisst es: "Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen." 17

Bis zum Tage der Exkursion fehlten mir jene erinnerungsfähigen Bilder aus dem Pfälzerwald, die den Geschmack des Edelkastanienhonigs nun vollkommen machen. 18


Fussnoten

1 Siehe die detaillierte Darstellung bei wikipedia unter http://de.wikipedia.org/wiki/Edelkastanie
2 Vgl. http://www.hochmittelalter.net/Wissenswertes/Garten/body_garten.html
3 Vgl. Helmut Bode: Johann Ludwig Christ. Pfarrer, Naturforscher, Ökonom, Bienenzüchter und Pomologe. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1984.
4 Für diesen Hinweis danke ich Chrysoula Pasachidou.
5 Honigtau sind die Exkremente der Läuse (Lachnidae). Nach der Verdauung von Siebröhrensaft wird der Honigtau tröpfchenweise ausgeschieden und von den Bienen aufgenommen. Vgl. Stichwort Honigtauabgabe im Lexikon der Bienenkunde.
6 Foto
7 Nähere Informationen unter http://www.bienenarchiv.de/
8 An dieser Stelle danke ich Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Stever für die exzellente und umsichtige Exkursion.
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11 Geographische Angaben aus: Naturpark Pfälzerwald, Wander- und Bikekarte Nr. 766, 1:50 000, Kompass-Karten, Rum/Innsbruck o.J.
12 Foto
13 Für den Jahrgang 2006 ist eine Verkostung am 23.10.2006 in einer Veranstaltung der Experimentelle Reihe geplant.
14 Das Wort Nachgeschmack, welches hier passend wäre, hat umgangssprachlich eine negative Konnotation.
15 http://de.wikipedia.org/wiki/Katerini
16 Vgl. In Swanns Welt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 63 ff.
17 A.o.O., S. 65.
18 Foto


Alle Rechte am Bericht besitzt der Autor.





2002


Bericht über eine Performance im Hidden-Museum

Jürgen Engel
Kunst und Honig

Mitwirkende:
Viktoria Meienburg: Vorleserin
Bernhard Kathan: Küche, Text
Hardy Ess, Hans Soukup: Dokumentation
Moritz: bewundernswerter Störefried

Gekürzte Fassung, die vollständige Fassung finen Sie hier.

Stellen Sie sich, wenn Sie können, einen kleinen Raum vor, sechseckig wie die Zelle einer Bienenwabe. Weder ein Fenster noch eine Lampe erhellt ihn, und doch ist er von sanftem Glanz erfüllt. Es gibt keine Öffnungen für die Ventilation, aber die Luft ist frisch. Musikinstrumente sind nicht vorhanden, dennoch hallt in dem Augenblick da meine Betrachtung beginnt, dieser Raum von melodischen Tönen wider. In der Mitte steht ein Lehnsessel, an, seiner Seite ein Lesepult - nichts weiter an Mobiliar. Und in dem Lehnstuhl sitzt eine bekleidete Masse Fleisch, eine Frau, ungefähr fünf Fuß groß, mit einem Gesicht weiß wie ein Schwamm.

Ihr gehört der kleine Raum.
Eine elektrische Klingel läutete.
Die Frau berührte einen Schalter, und die Musik verstummte.
Ich glaube, ich muß nachsehen, wer das ist, dachte sie und setzte ihren Sessel in Bewegung. Er wurde wie die Musik von einem Mechanismus betrieben und rollte sie an das Ende des Zimmers, wo die Klingel noch immer hartnäckig läutete.
"Wer ist da?" rief sie. Ihre Stimme klang gereizt, denn sie war, seit die Musik begann, schon öfter unterbrochen worden. Sie kannte einige tausend Leute; auf gewissen Gebieten hatten die zwischenmenschlichen Beziehungen enorme Fortschritte gemacht.
- Edward Morgan Forster, Die Maschine bleibt stehen

Zähklebrige Masse. Duftnoten, Nebentöne. Honig kennt viele Qualitäten. Er kann mehr oder weniger süß, flüssig oder kristallin sein, hell und dunkel, diesen und jenen Geschmack haben, hunderte von Nuancen. Kastanienhonig hat bis zu 1,5 Promille Ameisensäure, während Akazienhonig fast frei von Ameisensäure ist. Bienen ist all dies kein Anliegen. Sie haben keine Vorstellung, dass Honig als Metapher des Vieldeutigen und Indifferenten genossen werden kann.

Im Frühling, wenn Blütezeit ist, hat sich im Stock die größte Anzahl von Bienen gebildet. Es ist Schwarmzeit. Da der Platz im Stock zu knapp geworden ist, zieht die Hälfte der Bienen wie eine heftig strömende Flüssigkeit aus - es kommt neben der geschlechtlichen nahezu gleichzeitig zu einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung: Der Bien verdoppelt sich in einer Art Zellteilung. Bevor ein Teil der Bienen mit der alten Königin ins Freie stürzt und wie ein summendes Insektengehirn auf einem Obstbaum hängt (von dem es durch den Imker, der das Schwärmen am liebsten verhindert, mit einem Kasten wieder eingefangen wird), haben die Arbeitsbienen schon Vorsorge getroffen. 16 Tage vor dem Schlüpfen einer neuen Königin haben sie mehrere größere Weiselzellen angelegt und die widerspenstige alte Königin (die ihren gewohnten Stock später verlassen muß) gezwungen, für Nachfolge zu sorgen. Die Maden und Puppen werden mit einem speziellen Saft aus den Kopfdrüsen der Arbeitsbienen, dem Gelée royale, gefüttert. Von den schlüpfenden Jungköniginnen wird nur eine einzige von einem "Hofstaat" umgeben, unverzüglich darauf werden ihre Schwestern von den Arbeitsbienen abgestochen. Die alte Königin hat den Stock längst verlassen, wenn ihre acht Tage alt gewordene Nachfolgerin - begleitet von einer Drohnenwolke - zum ersten Begattungsflug aufbricht. Der schnellste Drohn, der, weitab vom Standort, die Königin eingeholt hat, stülpt seinen grotesk großen, gallertigen Begattungsschlauch nach außen, schnellt ihn mit der darin enthaltenen Samenmasse im Flug in die Königin und sinkt sterbend, da ihm bei diesem Vorgang der Geschlechtsapparat abgerissen wird, zu Boden. Sofort stürzt sich der nächste Drohn auf die Königin, entfernt den Geschlechtsapparat des Vorgängers und vereinigt sich mit ihr auf dieselbe Weise. Die Königin wird fünf- bis zehnmal begattet. Acht bis zehn Millionen Samenfäden der Drohnen hat sie in einer Samenblase des Hinterleibes gespeichert. Aus befruchteten Eiern, die nicht größer als ein Kümmelkorn sind, werden Arbeitsbienen, aus den unbefruchteten - Drohnen. Die Drohnen haben daher keinen Vater, aber einen Großvater, eine Großmutter, zwei Urgroßmütter und einen Urgroßvater. Während eine Arbeitsbiene, die einen Großvater, zwei Urgroßväter und drei Urgroßmütter hat, in den Sommermonaten 35 bis 50 Tage lebt (im Winter aber sieben Monate), dauert das Leben einer Drohne bis zu fünf Monaten. Im August ereignet sich die "Drohnenschlacht". Es ist ein seltsamer biologischer Vorgang. Der Bien trennt sich von seinem männlichen Geschlechtsteil - er entmannt sich geradezu. Die Bienen bereiten sich nämlich, nachdem nichts mehr blüht, darauf vor, daß sie vom eingebrachten Honig leben müssen. Bemerkenswerterweise haben die Sommerbienen, die ihre Nachfolger, die Winterbienen, nie zu Gesicht bekommen, diesen gesammelt und dafür ihr eigenes Leben beträchtlich verkürzt. Nun befreien sich die Bienen also von den "überflüssig" gewordenen Essern. Eines Tages wird den Drohnen die Nahrung verweigert, und sie werden aus dem Stock gedrängt. Da sie keinen Stachel haben, können sie sich nicht wehren. Besonders hartnäckige werden abgestochen. Es folgt eine Festmahlzeit für Vögel und Igel, die in diesen Tagen in der Nähe der Bienenstöcke anzutreffen sind. Bald darauf hält der Bien den Winterschlaf.
- Gerhard Roth, Über Bienen

Honig ist Bienenkotze. Die Bienen nehmen den Nektar mit ihren Mundwerkzeugen auf und transportieren diesen, versetzt mit Fermenten, in ihrem Sammelmagen. Nur ein kleiner Teil des so gesammelten Nektars wird vom eigentlichen Magen, welcher der Eigenversorgung dient, aufgenommen. Gustav Mahler soll ein Honigverweigerer gewesen sein. Er wollte nicht von Tieren Erbrochenes essen. Das im Sammelmagen der Biene Transportierte wird wieder herausgepresst, in Zellen und Waben gestampft. Vorrat für den Winter. Beim Waldhonig werden die süßen Exkremente der Blattläuse in Honig verwandelt. Schlucken, Verdauen, Ausscheiden, Aufnehmen, oftmaliges Erbrechen, Wiederschlucken und Ausspucken unter Beimengung eigener Fermente. (1)

Von den drei schlafenden Töchtern des Königs sollte die jüngste und die liebste herausgesucht werden. Sie glichen sich aber vollkommen und waren durch nichts verschieden, als dass sie, bevor sie eingeschlafen waren, verschiedene Süßigkeiten gegessen hatten, die älteste ein Stück Zucker, die zweite ein wenig Sirup, die jüngste einen Löffel Honig. Da kam die Bienenkonigin von den Bienen, die der Dummling vor dem Feuer geschützt hatte, und versuchte den Mund von allen dreien, zuletzt blieb sie auf dem Mund sitzen, der Honig gegessen hatte, und so erkannte der Königssohn die Rechte.
- Grimm, Die Bienenkönigin

Bienen sammeln Blütenpollen, Nektar, nehmen auf, fermentieren, erbrechen, stampfen fest, schaben sich gegenseitig Wachs vom Körper, um Waben daraus zu bauen. Deutschland auf und ab, kreuz und quer. Sammeln von Erfahrungen, Notizen und Bildern. Ein Bienenleben ist kurz. Keine Biene vermag das Ergebnis ihrer Arbeit zu betrachten. Autobahnen. Marke Ford Mondeo ST 200 Baujahr 2000. Sammeln, was Bienenfreunde absondern, das Gesammelte wiederum mit Eindrücken und Überlegungen auf langen Autofahrten fermentieren. Dann, wenn auch kein Erbrechen, so doch ein Abgeben, Nähren. Keine Plastik, nicht einmal ein Fotodokument. Ein Prozess, in dem aus Gläsern in Mägen, von einem Gehirn in andere abgegeben wird. Wird Honig verkostet, dann geht es weniger um etwas Materielles als um etwas Soziales oder Geselliges. Jürgen Engel als glücklicher Bildhauer. Er produziert nichts, was sich greifen oder sehen ließe. Aber wenn auch unbestimmt, immer abhängig von Situationen, so findet sich doch ein Produkt, mag es noch so oft seine Gestalt ändern. "Wie arbeiten Sie? Honig auf Leinwand? Machen Sie Honigkunstskulpturen? Was verkaufen Sie?" Eine Galeristin: "Ich möchte nicht, dass die Räume mit Honig bekleckert werden!" Herumgetrieben durch die Neugier, eine gierige und zügellose Neugier. Das Projekt bin ich nun selber geworden. Es bleiben Artefakte, Verweise. Tabellen und Protokolle auf großen Papierflächen. So wird das Unsichere der Neugier überschaubar. Jedes Kolloquium wird zu einem vorläufigen Endpunkt einer Reihe vorangegangener Situationen. Jürgen Engel verknüpft so Anwesende mit Abwesenden, Vergangenes mit Gegenwärtigem, Gegenwärtiges mit Zukünftigen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das so Aufgenommene sich später in andere Räume, Mägen und Gehirne ergießen wird.

Rechenbeispiel einer Schularbeit der sechsten Schulstufe: Bienen sammeln Nektar und Blütenstaub in sehr großer Entfernung. Bienen benötigen für ihren Flug pro 100m ....... Kalorien. 1 Gramm Honig ist mit ...... Kalorien gleichzusetzen. Das Fassungsvermögens eines Sammelmagens beträgt 50 Milligramm. Wie groß muss die Entfernung sein, dass Bienen ein mit Honig bestrichenes Brett nicht mehr anfliegen. Dass dies auch eine Frage des Blütenangebotes wie des Wetters ist, sei hier unbeachtet.

Was ist den Bienen nicht alles angedichtet worden, angefangen bei ihrem sprichwörtlichen Fleiß bis hin zum perfekten Staatsgebilde! Der Bienenstaat findet sich auch in den negativen Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa in Edward Morgan Forsters 1928 erstmals erschienenen Erzählung Die Maschine bleibt stehen. In dieser Erzählung leben die Menschen in einer Welt, in der das einzelne Individuum nichts zählt, das Ganze dagegen alles. Sie leben in wabenartigen Zellen, zwar streng voneinander geschieden, aber in ständigem Kontakt mittels telekommunikativer Verdrahtung. Kontakt mit Mitmenschen geschieht über eine Art Bildtelefon. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, besteht ihr Lebensinhalt nur noch in der permanenten Suche nach neuen Ideen. Diese können nicht verrückt genug sein, aber mit eigenen Erfahrungen dürfen sie nichts zu tun haben. Die Menschen, die sich in Sachen Kommunikation in Abgrenzung zu früheren Gesellschaften für besonders fortschrittlich halten, vermögen nicht mehr, die Inhaltsleere des verkabelten Informationsaustausches zu sehen. Und so kommt es wie es kommen muss. Dem technischen und sozialen Kollaps ihrer Welt haben sie nichts entgegenzusetzen. Anfangs beklagen sie noch, dass der mechanische Arzt nicht mehr wie gewohnt von der Decke herunterfährt, um Thermometer oder Tabletten in den Mund zu schieben, Bett und Badewanne sich nicht mehr den Wünschen entsprechend aus dem Boden formen, oder der Musikgenuss durch Nebengeräusche gestört wird. Schließlich fügen sie sich einfach in ihr Schicksal.

Wenn ein Bienenvolk stirbt, ist das ungefähr so, als wäre ein Tier gestorben. Man vermisst eine Persönlichkeit, fast wie bei einem Hund oder zumindest wie bei einer Katze.
Eine tote Biene ist einem völlig gleichgültig; man fegt sie einfach weg. Das Sonderbare ist, dass die Bienen genau die gleiche Einstellung haben. Einen so totalen Mangel an Interesse für den Tod der anderen gibt es nicht bei vielen Tierarten. Zerdrücke ich ein paar Bienen, wenn ich einen Rahmen zu nachlässig einsetze, dann schleppen die andern sie weg, als handele es sich um irgendwelche kaputten Maschinen. Aber zuerst holen sie sich immer die Pollen, falls welche da sind.
- Lars Gustafsson, Der Tod eines Bienenzüchters

Kuno, der Held der Erzählung, klagt vor allem Erfahrung ein, letztlich den Körper mit seinen Grenzen und seiner Verletzlichkeit. Er will sich nicht länger den Täuschungen distanzlosen Verkehrs hingeben, Entfernungen real erfahren:
Du weißt, dass wir das Gefühl für den Raum verloren haben. Wir sagen "der Raum ist ausgelöscht", doch haben wir nicht den Raum ausgelöscht, sondern das Gefühl dafür. Wir haben einen Teil unserer selbst verloren. Ich beschloß, ihn wiederzuerlangen, und begann damit, die Plattform der Bahn außerhalb meines Zimmers auf und ab zu wandern. Auf und ab, bis ich müde war und so die Bedeutung von "nah" und "fern" zurückeroberte. "Nah" ist eine Stelle, zu der ich schnell zu Fuß gelangen kann, nicht ein Ort, an den mich die Bahn oder das Luftschiff schnell hinbringt. "Fern" dagegen eine Stelle, wohin ich nicht rasch zu Fuß hin kann; der Schlund ist "fern" obwohl ich in achtunddreißig Sekunden dort sein könnte, indem ich die Bahn besteige. Der Mensch ist das Maß. Das war meine erste Lektion. Des Menschen Füße sind das Maß für die Entfernung, seine Hände das Maß für den Besitz, sein Körper das Maß für alles, was liebenswert, wünschenswert und stark ist. Dann ging ich weiter. Kuno ist vor allem neugierig. Er will die Dunkelheit von Rohren und Schächten erfahren. Er will die feindliche gewordene Oberfläche der Erde sehen, den Körper seiner Mutter spüren, ihr blasses Gesicht sehen: Ich sehe so etwas Ähnliches wie dich in dieser Scheibe - aber dich sehe ich nicht. Ich höre so etwas Ähnliches wie dich durch das Telefon - doch dich höre ich nicht.

Bienen kennen keine Neugier. Nach strikt festgelegter Mechanik wird Nektar gesammelt, werden Drohnen oder überzählige Jungköniginnen abgestochen. Bienen kennen kein Drama, keine Tragödie. Der Königinnenmord ist Programm, festgelegt seit abermillionen Jahren. Im Gegensatz zur Biene hat der Mensch die Fähigkeit zur Neugier. Er kann sich treiben lassen und andere Welten antizipieren. In Forsters Erzählung verfügen die Menschen über keine Vorstellungen mehr, die sich auf Dinge oder Ereignisse bezögen, die in der Zukunft liegen. Kuno klagt nicht nur die räumlichen Entfernungen ein, sondern vor allem jene Zeit, die zwischen einem Wunsch und seiner Befriedigung liegt. Konsequent lässt Forster Kuno mit allen anderen umkommen, allerdings um Erfahrungen reicher, die ihn erst zu einem menschlichen, selbstbestimmten Wesen gemacht haben. Das Erstaunliche an der Geschichte: Für Forster bildet die Anerkennung von Schmerz und Tod, also das, was man mit Flusser die kalte Außenluft nennen könnte, aber auch die Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers die Voraussetzung zwischenmenschlicher Begegnung und menschlicher Würde.

Der Museumsdirektor hat sich den Imker zum Vorbild genommen. Er weiß, wieviel Neugier und Sorge sein Museum erfordert, weiß aber auch, dass er dieses lange Zeiten sich selbst und anderen überlassen muss.

"Wo bist du?" schluchzte sie.
Im Dunkeln sagte seine Stimme: "Hier."
"Gibt es noch Hoffnung, Kuno?"
"Nicht für uns."
"Wo bist du?"
Über die Leiber der Toten kroch sie zu ihm hin. Sein Blut spritzte über ihre Hände.
"Schneller", keuchte er, "ich sterbe ... , aber wir berühren uns, wir reden, nicht durch die Maschine."
Er küsste sie.
- Edward Morgan Forster, Die Maschine bleibt stehen

Danksagung:

Eléonore Dolibois, Yogalehrerin, Blonay (CH)
Theresia Fleck, Dipl. Musikerin, Gensingen
Prof. Dipl.-Ing. Burkhard Grashorn, Architekt, Bauhaus-Universität in Weimar
Monika Herb, Museumspädagogin, Deutsches Bienenmuseum Weimar
Manon Hoof, Malerin, Weimar
Jutta Kritsch, Malerin, Frankfurt
Viktoria Meienburg, Vorleserin, Hamburg
Ruth Sachse, Galeristin, Hamburg
Michael Stahl, Pastor, Hamburg
Prof. Dr. Hermann Stever, Mathematiker, Landau i.d. Pfalz
Walter Wörtz und Heike Höss, Bienenmuseum Illertissen


Anmerkung:
(1) Zitat: " Ich esse Kunsthonig lieber als den echten, weil mir die Herstellung des Honigs durch den Bienendarm unappetitlich ist." Quelle: Mahler-Werfel, Alma: Mein Leben. Fischer, Frankfurt 2002 (37. Aufl.), S. 47.



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